Einen Text zu schaffen, der die Totalität eines Eindrucks oder eines Stücks Realität schafft, ist das Ziel wohl jedes Dichters, jeder Dichterin. Es geht dabei weniger um das pixelgenaue Abbildung eines Stücks Realität, sondern um den Einsatz der richtigen Mittel und um die Auswahl der relevanten Elemente. Proust drückt das auf seine eyyaistisch-künstlerische Art und weise in der Recherche aus.

Dort lesen wir: "

Il y a des moments où, pour peindre complètement quelqu'un, il faudrait que l'imitation phonétique se joignît à la description, et celle du personnage que faisait M. de Charlus risque d'être incomplète par le manque de ce petit rire si fin, si léger, comme certaines oeuvres de Bach ne sont jamais rendues exactement parce que les orchestres manquent de ces «petites trompettes» au son si particulier, pour lesquelles l'auteur a écrit telle ou telle partie."

Es gibt Fälle, in denen zur Vervollständigung der Personenbeschreibung eine phonetische Wiedergabe unerläßlich wäre; die Schilderung der Erscheinung des Monsieur de Charlus läuft jedenfalls Gefahr, unvollkommen zu bleiben, weil eben dieses kurze, leichte und witzige Lachen fehlt, so wie gewisse Werke Bachs niemals ganz richtig wiedergegeben werden, weil den modernen Orchestern die Bach-Trompeten mit ihrem ganz besonderen Klang fehlen, für die der Komponist den einen oder anderen Part geschrieben hat. »

Als nicht ästhetische fokussierte Leserin oder Leser ist es meist gerade das Klangliche in einem Text, das unterschätzt wird. Die Linguistik hat interessanterweise erst relativ spät entdeckt, dass gerade für die Ästhetik die Klanglichkeit von ebenso grosser Bedeutung ist wie die Inhalte. Eben auf diesen Sachverhalt verweist das Zitat von Proust. Und damit nimmt Proust gewissermassen die Erkenntnisse von Louis Hjelmslev voraus. Hjelmslev unterschied vier Sprachbereiche: die Substanz des Inhalts (die semantischen Bausteine) und die Form des Inhalts (das Arrangement dieser inhaltlichen Bausteine entlang eines zeitlichen Kontinuums) einerseits, und andrerseits die Substanz des Ausdrucks (die phonetisch-phonologischen Bausteine) und deren Arrangement entlang eines zeitlichen Kontinuums. Der Beispieltext aus Overrath thematisiert diese Ästhetik des Klang als Gestaltung, Proust thematisiert sie als essayistische Reminiszenz.

Overath: Ein Winter in Istanbul